Syrophönizische Frau
Begegnung mit der syrophönizischen Frau - der Glaube der heidnischen Frau
24 Jesus brach auf und zog von dort in das Gebiet von Tyrus. Er ging in ein Haus, wollte aber, dass niemand davon erfuhr; doch es konnte nicht verborgen bleiben. 25 Eine Frau, deren Tochter von einem unreinen Geist besessen war, hörte von ihm; sie kam sogleich herbei und fiel ihm zu Füßen. 26 Die Frau, von Geburt Syrophönizierin, war eine Heidin. Sie bat ihn, aus ihrer Tochter den Dämon auszutreiben. 27 Da sagte er zu ihr: Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. 28 Sie erwiderte ihm: Herr! Aber auch die kleinen Hunde unter dem Tisch essen von den Brotkrumen der Kinder. 29 Er antwortete ihr: Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen! 30 Und als sie nach Hause kam, fand sie das Kind auf dem Bett liegen und sah, dass der Dämon es verlassen hatte.
Ein spannende Geschichte, und eine ungemütliche. Nicht nur, dass uns heute die Existenz von Dämonen eher fremd vorkommt und wir keinen direkten Zugang dazu haben. Vielmehr erscheint die abweisende, ja beleidigende Reaktion Jesu auf die Bitte der Frau befremdlich; es passt nicht zum gängigen Jesusbild.
Ich konnte mich in mehreren Bibliodrama-Spielen mit der Geschichte intensiv auseinandersetzen. Es scheint mir, dass diese Art der Exegese einen echten Zugewinn an Glaubensverständnis bringen kann.
1. Räume und Orte
Jesus geht über die Grenze des jüdischen Landes ins Ausland. Unmittelbar vorher wird von der Auseinandersetzung mit dem religiösen Establishment über die Reinheitsvorschriften und zugleich über den Vorwurf Jesu der Untreue der Gesetzeslehrer erzählt. Von der Reaktion darauf wird nichts erzählt, aber vom Widerstand, der Ablehnung bis zum Todesurteil durch die Mächtigen ist auszugehen. Da wird der Aufbruch Jesu verständlich; er flieht vor dem Zugriff und behält seine Handlungsfreiheit: „Niemand sollte davon erfahren“.
Die phonizische Stadt Tyrus entwickelte sich in der römischen Kaiserzeit zum dominanten Hafen am Mittelmeer, von dem aus das Getreide – v. a. auch aus dem galiläischen Hinterland – nach Rom verschifft wurde. Galiläa galt mit seinen zwei Ernten im Jahr als eine der Kornkammern Roms.
Die lange Konfliktgeschichte Israels mit den Seevölkern in Phönizien kommt in der Erzählung von David und Goliat symbolisch zum Ausdruck; Goliat, der Held und Riese im phönizischen Heer ist immer schon der militärisch und waffentechnisch Überlegene und nur der alles überragende König David, dem späteren Ideal-König Israels, konnte ein einmaliger Sieg (mit Schleuder und Gottesunterstützung) gelingen. In der Frühzeit war Israel weitgehend halbnomadisch geprägt und kulturell und militärtechnisch noch in der Bronzezeit, während die Städte am Mittelmeer schon in Eisen produzieren konnten.
2. Die Begegnung zwischen der (namenlosen) Frau und Jesus
Wie mag wohl die Begegnung zwischen der Frau und Jesus abgelaufen sein? Die Erzählung im Evangelium ist denkbar knapp erzählt, man wird wohl den Konflikt: Bitte um Hilfe, Jesu Ablehnung, Erwiderung der Frau, Korrektur und Begründung der Umkehr Jesu inklusiv der Fernheilung als etwas längeren und differenzierteren Prozess denken dürfen.
Geht man von einer offenen Begegnung aus, d.h. Jesus will mit seiner Zurückweisung nicht den Glauben der Frau an ihn prüfen – im Sinn eines „pädagogischen“ Programms, und die Frau agiert authentisch, in dem Sinn, dass ihr Handeln und Reden aus der Angst und Not um ihre Tochter geschieht und nicht strategisch („es ist doch einen Versuch wert und dafür kann man sich mal klein machen“), wird das jüdische Selbstverständnis Jesu seine Vorbehalte gegen eine heidnische Frau mit begründet haben. Sie als Repräsentantin einer (vermeintlich) überlegenen griechischen Kultur ergreift die Initiative, damit er ihr seine Heilkunst zur Verfügung stellt. Ihre Demutsgeste dürfte Ausdruck ihrer Not gewesen sein. Und bekommt dann noch eine beleidigende Absage. Ein Rückzug und die Aufgabe ihres Anliegens wäre mehr als verständlich.
Jesus kann oder/und will ihr nicht helfen; sie gehört nicht zu seiner „Zielgruppe“, nicht zum auserwählten Volk Gottes, zu dem er sich gesandt weiß. Zudem steht sie für das ausbeuterische System, das sein Volk in größter Not und Existenzängsten hält. Seine Macht und Botschaft soll den Kindern vorbehalten sein, die anderen nehmen sich eh schon zu viel.
Die Entgegnung der Frau (ohne Namen) ist bemerkenswert; „es fällt doch immer etwas ab!“ Damit lenkt sie den Blick von der strikten Abgrenzung im Selbstverständnis Jesu zu den menschlichen „Unschärfen“; nicht mehr die Not (der hungernden und geschundenen Juden) steht jetzt im Mittelpunkt, sondern der Reichtum der Möglichkeiten Jesu, der nicht an der Tischkante (bildlich) und nicht an der Landesgrenze Halt macht. Ist Gottes Heilswillen universal und steht Jesus als sein „Wort“ auch dafür? Dann könnte Jesus in dem Moment klar geworden sein: weil sie an seine und Gottes größere Möglichkeit glaubt und entsprechend handelt, geschieht die Heilung (mittels Jesu Zusage): der Gott der Juden wird der gütige Vater auch dieser heidnischen Tochter und ihrer Mutter.
3. Der Dämon und sein „innerer“ Ort
Eine schwierige Erfahrung in den bibliodramatischen Inszenierungen war meist die Rolle und das Verhalten des Dämons (sofern sie von Teilnehmenden gewählt wurde). Oft rückte der Dämon von hinten an die Tochter heran, fiel ihr dauernd ins Wort (damit sie keinen klaren Gedanken fassen konnte), baute sich vor ihr auf (damit sie ihre Mutter nicht mehr sehen konnte) und nahm „von außen“ auf sie Einfluss. Die „Befreiung“ oder „Heilung“ blieb dann auch irgendwie äußerlich, hatte also keine innere Stringenz oder Begründung; seine Macht über die Tochter (oder über die Mutter-Tochter-Dynamik) wurde nicht von innen her verändert und damit nicht nachvollziehbar.
Aus heutiger Sicht wäre die entfremdende Macht über die Tochter wohl eher „in“ ihr oder in der Beziehung der Beiden zu suchen, hier setzt dann ja auch die Veränderung aus dem Glauben der Mutter an. Zu denken, wäre etwa an einen kommunikativen Riss, so dass die Tochter ihre Mutter nicht mehr an sich heranlassen kann. Diese Kontaktverweigerung könnte sowohl innerdynamisch (etwa durch zu viel Nähe, Behütet-sein, Erwartungen und Machtausübung) oder von außen, durch kulturelle (Rollen-) Erwartungen oder traumatische Erfahrungen begründet sein.
Eine mögliche Phantasie setzt bei der Frage nach dem Mann/Vater an. Von dem wird nichts erzählt; gibt es ihn nicht? Spielt er keine Rolle (mehr) oder muss er geradezu verheimlicht werden? Vielleicht ist es weit hergeholt: in der damaligen männerdominierten und gewalttätigen Gesellschaft könnte auch die Paarbeziehung von Mutter und Vater „gewaltig“ gescheitert sein, die traumatisierte Mutter will ihre Tochter vor ähnlichen Erfahrungen unbewusst beschützen und boykottiert die entsprechenden Entwicklungsschritte des Mädchens; die meisten Spielteilnehmerinnen in der Rolle der Tochter sahen sich im Alter von 12 bis 14 Jahren.
Und noch eine weit hergeholte Parallele: Auch im Märchen „Rumpelstilzchen“ der Gebrüder Grimm, droht der Königin der Verlust ihres Kindes an einen Kobold/Dämon. Nicht selten helfen diese Zwerge in existentiellen Notlagen zur Überwindung; im Märchen spinnt der Kobold für die zuvor arme Müllerstochter mehrere Kammern voll Stroh zu Gold, weil ihr Vater dem König eben das versprochen hatte und der König sie in seiner Goldgier auf die Probe stellt, andernfalls müsse sie sterben. Von Vater und König in Todesangst gedrängt, verspricht sie dem Kobold für die Rettung ihr erstes Kind. Der lebensbedrohliche Zauber wird erst erlöst, als die Königin den Namen des Kobolds nennen kann und damit seine heimliche Macht bricht. Weil sie das sagen kann, zerreißt es ihn von oben bis unten. Das Erkennen und Benennen der dämonischen Macht kann die Angst und Fixierung darauf bannen und zu neuen, lebensfördernden Handlungsmöglichkeiten führen.
4. Heilende Glaubensdimension, gütiger und positiv-mächtiger Vater als Entlastung
Angenommen, die Dramatik der biblischen Geschichte, symbolisiert im lebensvernichtenden Dämon wäre damals so (oder so ähnlich) gewesen, oder hätte in der Hörer- und Leserinnen der Hl. Schrift solche Assoziationen anklingen lassen, wie ist dann die Heilung/Befreiung vorstellbar? Nach dem Muster des Märchens wäre das Wissen und die Nennung des Dämon-Namens plausibel – der aber spielt keine Rolle. Welche „innere“ Macht hat Jesus der hoffenden Mutter anzubieten, die wahrscheinlich schon (bei entsprechenden finanziellen Mitteln) verschiedene Heiler aufgesucht hatte?
Er hatte nichts als das Vertrauen auf einen liebenden Vater, der sein Volk durch alle Tiefen und Notsituationen hindurch begleitet und geführt hat und deswegen der Garant für ein „gutes“ Leben auch unter schlechten bis katastrophalen Bedingungen sein will; mit diesem Gott kann und darf man rechnen. Möglicherweise ist der Glaube und die neue Hoffnung, dass männliche/väterliche Macht nicht nur toxisch und zerstörerisch sein muss, der Ansatz für die Wandlung in der Frau; dass es trotz aller negativen Erfahrungen doch einen tragenden und heilenden Grund gibt, auf dem sie dem Leben trauen kann und auf dem sie ihre Tochter „getrost“ gehen lassen kann.
Jesus will von der Geschichte des Dämons gar nichts hören, es scheint ihn nicht zu interessieren. In der Begegnung zwischen den Beiden gewinnt er keine Macht. Zurechtgestutzt auf einen Anlass, miteinander in einen echten, lebensnotwendigen Kontakt zu kommen, verliert er angesichts der Heilsmöglichkeiten des Vaters seine Bedrohung. Weil sie „das“ gesagt hat – kann er ihr sagen, der Dämon hat ihre Tochter verlassen. Weil Beide sich verändern ließen, kann die Tochter im Haus der Mutter aufleben.